Die Neue Optik
Die Thesen von Siegfried Giedion und László Moholy-Nagy zu einer neuen Visuellen Kultur in den 1920er Jahren. Mit finanzieller Unterstützung der Zentralen Forschungsförderung der Universität Kassel
Vor über 90 Jahren hatte der Bauhaus-Künstler und Medienpionier László Moholy-Nagy den Raum 1 der Internationalen Werkbund-Ausstellung ‚Film und Foto‘ (FiFo) in Stuttgart eingerichtet. Diese legendäre Ausstellung präsentierte die namhaftesten Vertreter der modernen internationalen Fotografie, die heutzutage unter der Formel ‚Neues Sehen‘ oder ‚Bauhaus-Fotografie‘ firmieren. Der Raum 1 der FiFo hatte eine besondere Aufgabe: Es galt, die Geschichte und Gegenwart der Fotografie mithilfe von über 300 ausgewählten Exponaten geradezu enzyklopädisch Revue passieren zu lassen, um in den nachfolgenden Schauräumen die Zukunft dieses Bildtypus zu entwerfen.
Die Idee zu dieser geradezu manifestativen Argumentation hatte Moholy-Nagy gemeinsam mit dem Schweizer Kulturtheoretiker Sigfried Giedion entwickelt. Hierbei fungierte Moholy-Nagy sowohl als Wissenschafts- als auch als Künstlerkurator. Die konzeptionelle Grundlage für diese kuratorische Arbeit war die Überzeugung von Giedion und Moholy-Nagy, dass sich im Zuge einer massenmedial geprägten Kultur die kollektive Visuelle Kultur verändert habe. Diese Veränderung werde an den progressiven Strömungen in der avantgardistischen Kunst und Fotografie sichtbar, jedoch in gkeichem Umfang in der Amateur- und Wissenschaftsfotografie. Es gilt zudem zu betonen, dass Giedion und Moholy-Nagy, d.h. ein Universitätswissenschaftler und ein Medienkünstler in einer künstlerisch-wissenschaftlichen Forschung kooperierten und in ihren jeweiligen Ausdrucksformen eine visuell-kuratorische Beweisführung ihrer kultur- und medientheoretischen Erkenntnisse fanden.
Moholy-Nagy und Giedion konnten schließlich in Zürich, wo die FiFo nach der Station in Berlin zu sehen war, diesem kulturtheoretischen Konzept einer neuen Visuellen Kultur kuratorisch auf eine besondere Weise entsprechen: Es wurde im dortigen Kunstgewerbemuseum die FiFo umfangreich eingerichtet. Darüber hinaus wurde beinahe zeitgleich im Kunsthaus Zürich die Ausstellung ‚Abstrakte und surrealistische Malerei‘ präsentiert. (Ursprünglich hatte die Ausstellung den Titel ‚Neue Optik‘.) Durch die (ursprünglich schon für die Stuttgarter Station geplante) Parallelität von progressiver Malerei und Fotografie, die ihrerseits Beispiele aus allen Anwendungsbereichen wie Wissenschaft, Journalismus etc. zeigte, sollte der Öffentlichkeit die Stichhaltigkeit der Thesen des Künstlers Moholy-Nagy und des Kulturtheoretikers Giedion buchstäblich vor Augen geführt werden: Die Bildsprache der progressiven Künstler wie Piet Mondrian, Kurt Schwitters, Moholy-Nagy, Salvador Dali, Hans Arp oder Pablo Picasso wiesen in Einvernehmen mit der Fotografie indikatorisch auf eine gewandelte kollektive Wahrnehmung hin.
Das grundlegende kuratorische Prinzip war die sogenannte ‚Vergleichende Betrachtung‘, die zum methodischen Kernbestand der Kunstwissenschaft zählt, seine erste Anwendung mit dem ‚Pendantsystem‘ des frühen 19. Jahrhunderts erfuhr und schließlich zu Beginn des 20. Jahrhunderts u. a. durch Heinrich Wölfflin und Aby Warburg in der Kultur- und Kunstwissenschaft etabliert wurde.
Dieses Forschungsprojekt ist die Fortsetzung der kunstwissenschaftlichen Erforschung und virtuellen wie materialen Rekonstruktion des Raums 1 der FiFo und erfolgt in einer Zusammenarbeit mit Dr. Ute Famulla. Ein Netzwerk aus Experten und Expertinnen rahmt die erfolgten wie geplanten Forschungen: ETH/gta Zürich, Prof. Dr. Oliver Lugon (Universität Lausanne, CH), Kunstakademie Götheborg (Schweden), Kunsthaus Zürich, Hochschule Nürnberg, Prof. Dr. Christoph Schaden.